Mehr Menschlichkeit in HR-Daten
- Sonja Lutz
- 22. Mai
- 6 Min. Lesezeit
Warum Führungskräfteentwicklung mehr als nur Kennzahlen braucht
In der heutigen, zunehmend datengetriebenen Geschäftswelt sind Personalabteilungen mit zahlreichen Kennzahlen überhäuft. Engagement-Scores, Fluktuationsquoten, Time-to-Hire, Abwesenheitsquoten, 360-Grad-Feedback-Dashboards und Stimmungsanalysen geben angeblich Einblicke in die Gesundheit der Organisation und die Führungseffektivität. Mit leistungsstarken Softwaretools und KI-gestützten Analyseplattformen können Unternehmen nun detaillierte Berichte und Heatmaps erstellen, die Engagement-Muster, Kulturtrends und Kompetenzlücken in Teams aufzeigen.
Trotz dieser Fülle quantitativer Daten werden viele Unternehmen immer noch von Führungsfehlern überrascht. Nicht selten liefern Engagement-Umfragen glänzende Ergebnisse, während darunter erhebliche kulturelle oder zwischenmenschliche Probleme schwelen. Führungskräfte, die in digitalen Dashboards hohe Werte erzielen, stehen möglicherweise nicht im Einklang mit den Werten des Unternehmens, untergraben das Vertrauen oder hemmen durch ihren Stil oder ihr Verhalten subtil Engagement und Innovation.
Dies erfordert ein grundlegendes Umdenken: Es ist Zeit, den Menschen wieder in die HR-Daten einzubeziehen.
Die Illusion der Erkenntnis: Wenn Daten nicht ausreichen
Stellen Sie sich einen Manager vor, der von seinem Team konstant hohe Engagement-Bewertungen erhält. Auf dem Papier ist dieser Leiter erfolgreich und erreicht alle gesetzten Ziele. Doch Austrittsgespräche und Einzelcoachings zeigen ein anderes Bild: Die Teammitglieder fühlten sich unter Konformitätsdruck, hatten psychische Sicherheitsprobleme und vermieden kritisches Feedback. Der Führungsstil des Managers schuf eine Kultur des Leistungsdenkens durch Angst, die durch kurzfristige Compliance und oberflächliche Positivität verschleiert wurde.
Dies ist kein Einzelfall. Nehmen wir zum Beispiel Wells Fargo Mitte der 2010er Jahre. Mitarbeiter berichteten durchweg von hohem Engagement und hohen Leistungskennzahlen, doch erst später stellte sich heraus, dass viele zu unethischen Praktiken gedrängt wurden, um Ziele zu erreichen. Der Führungsstil, der zu Überleistung ermutigte, schuf eine toxische Kultur, die sich hinter den Daten verbarg. (Quelle: The New York Times)
Personalabteilungen stellen zunehmend fest, dass traditionelle Instrumente – insbesondere standardisierte Umfragen und Pulsmessungen – manipuliert oder missverstanden werden können oder schlichtweg ein verzerrtes Bild der Realität zeichnen. Mitarbeiter reagieren möglicherweise aus Angst, Apathie oder einem Hang zur sozialen Erwünschtheit positiv. Führungsbeurteilungen, die ausschließlich auf diesen Daten basieren, erzeugen eine Illusion von Klarheit über die tatsächlichen Vorgänge im Unternehmen. Darüber hinaus aggregieren viele automatisierte Tools und Dashboards Daten auf Team- oder Organisationsebene, wodurch wichtige individuelle Erkenntnisse verloren gehen können.
Durchschnitte verbergen Ausreißer. Trends verschleiern persönliche Auswirkungen.
Wenn die Leistung einer Führungskraft in einer Weise unterdurchschnittlich ist, die sich auf die Moral, Innovation oder Zusammenarbeit auswirkt, können diese Auswirkungen subtil sein, auf Dashboards nicht sichtbar und nur durch Beobachtung der menschlichen Interaktionen erkennbar sein.
Die Grenzen automatisierter HR-Daten
Moderne HR-Technologien haben sich exponentiell weiterentwickelt. Tools wie Workday, SAP SuccessFactors, Culture Amp, Glint und Peakon bieten Integrationen mit Leistungsmanagement, Engagement-Umfragen und sogar passiver Stimmungsanalyse durch E-Mails und Chat-Protokolle. KI-Modelle analysieren Muster und bieten prädiktive Analysen zu Mitarbeiterbindungsrisiken, Burnout oder DEI-Lücken.
Diese Tools weisen jedoch entscheidende Einschränkungen auf:
Kontextblindheit : Automatisierte Systeme übersehen oft den differenzierten Kontext hinter Verhaltensweisen. Beispielsweise kann ein Rückgang des Engagements als Warnsignal gewertet werden, ohne zu berücksichtigen, dass das Team eine strategische Neuausrichtung durchläuft oder eine neue Führungskraft in die neue Rolle einfängt.
Datenverzerrung durch Selbstauskunft : Die meisten Umfragen basieren auf Selbstauskünften. Mitarbeitern fällt es möglicherweise schwer, ihre Unzufriedenheit zu äußern, insbesondere wenn die Anonymität gefährdet ist.
Aggregierte Berichterstattung : Viele Plattformen bieten Einblicke auf Abteilungs- oder Teamebene, wodurch es schwierig wird, einzelne Führungsstile zu erkennen, die von der Norm abweichen.
Statische Bewertungen : Jährliche oder vierteljährliche Umfragen erfassen die sich entwickelnde Dynamik von Teams und Führungsverhalten nicht.
Betrachten wir das Beispiel von Uber im Jahr 2017. Das Unternehmen hatte Zugriff auf umfangreiche Personaldaten, doch erst ein vielbeachteter Blogbeitrag der ehemaligen Ingenieurin Susan Fowler enthüllte das Ausmaß der toxischen Unternehmenskultur und des Führungsversagens. Die aggregierten Daten spiegelten nicht die tatsächlichen Lebenserfahrungen vieler Mitarbeiter wider. (Quelle: Susan Fowler Blog)
Diese Einschränkungen hinterlassen bei den Organisationen einen gefährlichen blinden Fleck: Sie sind nicht in der Lage, Führungslücken auf individueller Ebene genau zu diagnostizieren, bevor sie zu systemischen Problemen werden.
Warum Verhaltensdaten und qualitatives Feedback wichtig sind
Führung bedeutet nicht nur, Leistungsziele zu erreichen oder Ergebnisse zu erzielen. Es geht darum, wie diese Ergebnisse erreicht werden – durch Zusammenarbeit, Inspiration, Einbeziehung und Vertrauen. Diese Qualitäten sind verhaltensbezogen, relational und oft in Dashboards nicht sichtbar.
Verhaltensdaten, die durch strukturierte Beobachtungen, Führungssimulationen oder regelmäßige Feedbackschleifen gesammelt werden, liefern ein umfassenderes und genaueres Bild der Wirkung einer Führungskraft. Zum Beispiel:
Unterbricht eine Führungskraft regelmäßig Besprechungen?
Fördern sie unterschiedliche Meinungen oder bevorzugen sie unbewusst ähnliche Standpunkte?
Coachen sie ihre Teammitglieder oder betreiben sie Mikromanagement?
Bilden sie zukünftige Führungskräfte aus oder schaffen sie Abhängigkeiten?
In einem Deloitte Human Capital Trend-Bericht gaben 81 % der Befragten an, dass Führungskräfte stärker auf die Mitarbeiter fokussiert sein müssen. Doch nur 29 % gaben an, dass ihre Unternehmen diese Fähigkeiten effektiv fördern. Die Kluft zwischen Erwartung und Realität unterstreicht die Notwendigkeit tiefergehender, verhaltensbasierter Bewertungen.
Solche Erkenntnisse können nur durch eine Kombination verschiedener Methoden gewonnen werden: Peer-Feedback, Coaching-Gespräche, Einzelinterviews und Verhaltensanalysen in Echtzeit. Diese qualitative Ebene verleiht den quantitativen Daten Tiefe und Struktur und ermöglicht es Unternehmen, von oberflächlichen Erkenntnissen zu echtem Verständnis zu gelangen.
Coaching als Diagnose- und Entwicklungsinstrument
Eine der effektivsten Möglichkeiten, Führungsschwächen aufzudecken, ist Coaching. Erfahrene Coaches schaffen einen geschützten Raum, in dem Führungskräfte ihre Wirkung reflektieren, Feedback analysieren und sich Verhaltensweisen bewusst werden können, die sie möglicherweise behindern.
Im Gegensatz zu standardisierten Beurteilungen ist Coaching dynamisch. Es passt sich dem Einzelnen an, erkundet die zugrunde liegenden Motivationen und Annahmen und kann unangenehme Wahrheiten ansprechen, die Daten allein nicht ans Licht bringen können.
So veränderte beispielsweise Microsoft-CEO Satya Nadella die Unternehmenskultur, indem er Führungskräfte ermutigte, von der „Alles-Besser-Mentalität“ zu einer „Alles-Lernen-Mentalität“ zu wechseln. Durch Führungscoaching und Entwicklungsprogramme wurden Manager dabei unterstützt, Bescheidenheit, Neugier und Teamgeist zu entwickeln – Eigenschaften, die schwer zu quantifizieren, aber entscheidend für die Leistung sind. (Quelle: Harvard Business Review)
Unternehmen, die Coaching in ihre Führungskräfteentwicklung integrieren, verbessern nicht nur die individuelle Leistung, sondern gewinnen auch einen realistischeren Überblick über ihre Talentlandschaft. Coaching schließt die Lücke zwischen Daten und Entwicklung.
Argumente für die individuelle Erkennung des Blind-Spots
Jede Führungskraft hat blinde Flecken. Dabei handelt es sich nicht um Schwächen im herkömmlichen Sinne, sondern um Bereiche, in denen Absicht und Wirkung nicht übereinstimmen. Eine Führungskraft könnte glauben, ihr Team durch Delegation zu stärken, während sich das Team im Stich gelassen und nicht unterstützt fühlt.
Um diese blinden Flecken zu identifizieren, sind mehr als nur Daten erforderlich. Es erfordert die Triangulation mehrerer Quellen:
Quantitative Daten (z. B. Engagement-Scores, 360-Feedback)
Daten aus Verhaltensbeobachtungen
Qualitative Interviews
Coaching-Reflexionen
Historische Leistungstrends
Ein gutes Beispiel ist Googles Projekt 'Oxygen', das zunächst beweisen wollte, dass Manager keine Rolle spielen. Das Gegenteil stellte sich jedoch heraus. Durch die Kombination von Daten und Verhaltensinterviews identifizierte Google wichtige Führungsverhaltensweisen, die leistungsstarke Manager auszeichnen. Das Ergebnis war ein Rahmenkonzept, das emotionale Intelligenz, psychologische Sicherheit und aktives Coaching betonte – all dies war in den ersten quantitativen Analysen allein nicht zutage getreten. (Quelle: Google Re:Work)
Die Kombination dieser Quellen trägt zu einem ganzheitlichen Bild bei. So können HR-Teams und Führungskräfteentwicklungsexperten maßgeschneiderte Interventionen anbieten, die die Ursachen statt der Symptome angehen.
Gezielte Förderung: Die Zukunft der Führungskräfteentwicklung
Sobald die Schwachstellen identifiziert sind, ist gezielte Unterstützung der nächste Schritt. Statt allgemeiner Führungstrainingsprogramme sollten Unternehmen personalisierte Entwicklungsprogramme anbieten:
Wenn eine Führungskraft mit der inklusiven Kommunikation zu kämpfen hat, sollte ihr ein auf DEI spezialisierter Coach zugewiesen werden.
Wenn es jemandem an strategischen Denkfähigkeiten mangelt, bieten Sie ein simulationsbasiertes Entscheidungsfindungstraining an.
Gestalten Sie Peer-Learning-Sitzungen für Führungskräfte, die mit Feedback zu kämpfen haben, in denen Offenheit und aktives Zuhören im Mittelpunkt stehen.
Unilever beispielsweise hat im Rahmen seiner Initiative „Connected 4 Growth“ eine gezielte Führungskräfteentwicklung umgesetzt. Führungskräfte wurden durch maßgeschneidertes Coaching und verhaltensbezogene Einblicke unterstützt, was zu einer schnelleren Transformation in allen Geschäftsbereichen führte. (Quelle: McKinsey & Company) Dieser präzise Ansatz beschleunigt nicht nur die Entwicklung, sondern erhöht auch den ROI der Lerninvestitionen. Führungskräfte fühlen sich wahrgenommen, unterstützt und gefordert.
Die Macht bereits vorhandener Daten
Stellen Sie sich vor, Sie beginnen ein Coaching-Engagement mit einem klaren, datenbasierten Bild der Stärken, Risiken und Schwachstellen einer Führungskraft. Bereits vorhandene Daten – verantwortungsvoll erhoben und differenziert interpretiert – können ein starker Beschleuniger sein.
Anstatt wochenlang mit der Diagnose zu verbringen, können Coaches und HR-Partner direkt in die Entwicklung einsteigen. Bereits vorhandene Erkenntnisse aus Engagement-Umfragen, Team-Health-Checks und Verhaltensdaten ermöglichen:
Schnellere Abstimmung auf Entwicklungsziele
Schnellere Wirkung durch gezielte Interventionen
Höheres Engagement von Führungskräften, die das Gefühl haben, dass ihre Zeit respektiert wird
Dies funktioniert jedoch nur, wenn die Daten sinnvoll integriert und nicht in Rohform bereitgestellt werden. Sie müssen kuratiert, kontextualisiert und durch menschliche Erkenntnisse ergänzt werden.
Fazit: Die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt stellen
Die Möglichkeiten von HR-Daten sind beeindruckend – ihre Grenzen ebenso. Wer alles quantifizieren will, verliert das Wesentliche: den Menschen.
Leadership Development gelingt nur, wenn Organisationen:
Daten mit qualitativen Erkenntnissen verknüpfen
Coaching systematisch einbauen
Verhalten in den Fokus rücken
Individuelle Entwicklung statt Massenprogramme fördern
Es geht nicht um „entweder Daten oder Menschen“. Es geht um beides – integriert. Nur so entfalten Führungskräfte ihr volles Potenzial. Und nur so entwickeln sich Organisationen nachhaltig weiter.
Zahlen führen keine Menschen. Menschen führen Menschen.